Qualität von OER: Auf dem Weg zur Qualität von „Open Education“

In einem Interview für die Wikimedia Deutschland  wurde ich gebeten einmal den Stand der Entwicklung für das Thema Qualität für OER einzuschätzen. Es ging darum, einmal aufzuzeigen, warum ein simples Anpassen bestehender Qualitätssicherungsverfahren einer zunehmend digitalen und heterogenen Lernumgebung nicht gerecht werden kann.

Qualität, so argumentiere ich im Interview, ist ein partizipativer Aushandlungsprozess. Damit erweitert sich die Perspektive im Qualitätskontext dahingehend, dass nicht ausschließlich die Ressource betrachtet wird, sondern beispielsweise auch Lernumgebungen sowie Lernniveaus und -erfahrungen Lernender Berücksichtigung finden müssen.

In dem Kurzinterview mit dem Projekt Mapping OER der Wikimedia Deutschland  geht es darum, warum Qualitätssicherung mit einem ganzheitlichen Blick auf die Bildungspraxis gedacht werden muss. Reicht es aus, allein die Ressource zu betrachten? Resultiert daraus ein Paradigmenwechsel in der Qualitätssicherung? Und inwiefern sind OER dabei wirksam oder fehlbar?

Das Interview ist hier: http://mapping-oer.de/themen/qualitaetssicherung/paradigmenwechsel-in-der-qualitaetssicherung/

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Erweiterter Interviewtext

Zusätzlich gibt es einen  erweiterten Interviewtext, der ursprünglich ausgearbeitet wurde, jedoch für das geplante Format etwas zu umfangreich war und den ich deshalb hier veröffentliche:

  1. Ihrer Meinung nach bedarf es eines “Paradigmenwechsels in der Qualitätssicherung” – woran machen Sie das fest? Und inwiefern greifen traditionelle Qualitätssicherungsinstrumente in einer zunehmend digitalen und heterogenen Lernumgebung?

Das ist im Grunde eine ganz einfache Frage, die aber weitreichende Konsequenzen betrifft. Heterogenität ist der digitale Normalfall. Und Heterogenität stellt sich zunehmend stärker als ein zentraler Einflussfaktor für Bildungserfolg heraus. Lang bekannte und bewährte Konzepte der Binnendifferenzierung im Schulalltag legen dies nahe und unterstreichen seine Bedeutung. Modularisierung und individuelle Lernpfade im E-Learning sind ebenfalls Konzepte, die versuchen, eine möglichst genaue Passung von Präferenzen und Bedürfnisses auf Seite der Lernenden einerseits mit dem Bildungsarrangement andererseits herzustellen. Wir können sogar so weit gehen, zu behaupten, Heterogenität sei eines der wesentlichen Konstrukte pädagogischer Praxis. Sie (Heterogenität) – also Ungleichheit – stellt seit jeher ein dialektisches Moment in der pädagogischen Diskussion dar. Bereits bei Comenius oder Humboldt und in vielen Reformpädagogiken finden sich Vorschläge zum Umgang mit Heterogenität in Lerngruppen, bspw. durch Konzepte der Binnendifferenzierung. Als anstrebenswert wird dabei zunächst jedoch immer eine möglichst homogene Lerngruppe angesehen. Im Bereich der beruflichen Fort- und Weiterbildung und im Zuge lebenslangen Lernens verstärkt sich die Heterogenität von Lerngruppen zunehmend. Beim E-Learning und in digitalen Lernumgebungen wird Heterogenität oft auch durch die Lernorganisation bzw. Lernform begünstigt. Beim E-Learning gibt es in der Gruppe der Lernenden eine potenziell heterogene Ausgangssituation. Dies gilt hinsichtlich demographischer Komponenten (berufliche Stellung, Bildungsstand etc.), inhaltlicher Komponen­ten (Vorwissen, Kenntnisse etc.) und der Lernerfah­rungen, die Lernende haben. Auf einheitliche Voraussetzung für eine Lerngruppe kann nicht ohne weiteres zurückgegriffen werden – das gilt in besonderem Maße übrigens für OERs, die ja gewissermaßen „kontextunscharf“ eingesetzt werden. Während der traditionelle Gruppenunterricht auf relativ homogenen Voraussetzungen angewiesen ist, ist E-Learning, als Form des selbstgesteuerten Lernens, nicht mehr dieser Restriktion unterworfen. Zudem gilt: Was wann, wie lange, wie oft gelernt wird liegt in der Kontrolle des Lerners. Eine ähnlich heterogene Ausgangslage liegt zumeist auch hinsichtlich der Bedürfnisstruktur vor. Potenziell ist medial gestütztes Lernen auch in den Zielvorstellungen und den damit zusammenhängenden Motivationsstrukturen völlig offen. Diese unterschiedlichen Bedürfnisse beeinflussen aber nicht nur den Lernerfolg, sondern sind auch für seine Definition entscheidend.

Die unterschiedlichen Zielstrukturen sind dabei vielfältig: eine private Fortbildung aus Interesse am Thema ist ebenso denkbar wie ein weiterer Berufsabschluss oder eine im Berufsalltag notwendig gewordene Weiterqualifizierung. Für Qualität heißt dies, dass ihre Bestimmung, Messung oder Förderung komplexer werden und sowohl die unterschiedlichen Ausgangssituationen als auch die individuellen Lernstrategien und -ziele reflektieren muss.

Heterogenität ist also der digitale Normalfall. In dieser Hervorhebung der Differenzen soll sich jedoch kein Verlust des Gemeinsamen ausdrücken. Es geht auch nicht darum, Verbindlichkeiten aufzulösen. Es geht vielmehr darum, heterogene Anforderungen als eine übergreifende Konzeption für die Konstruktion von Lernarrangements zu begreifen. Dabei sollen die jeweiligen Ausgangsbedingungen sich an den Bedürfnisse und Präferenzmustern der Lerner ausrichten. Das ist aktive Qualitätsentwicklung

Digitalisierung setzt zwar Grundgesetzte der Qualitätssicherung nicht grundsätzlich außer Kraft, sie bedarf aber einer grundsätzlich neuen Betrachtung. Wo das vernachlässigt wird, wird Qualität riskiert. Qualität ist ein relationaler Begriff, der im Spannungsfeld unterschiedlicher Dimensionen steht. Zunächst einmal gilt es also, dieses mehrdimensionale Konstrukt zu erschließen. Da gibt es unterschiedliche Qualitätsverständnisse, unterschiedliche Akteure, aus deren jeweils anderer Perspektive Qualität je anders definiert wird und schließlich kann sich Qualität auch noch auf unterschiedliche Bereiche eine Qualifikationsprozesses beziehen (z.B. Inputqualität, Prozessqualität, Outcomequalität). Qualität zu definieren bedeutet also, sich in diesem gewissermaßen mehrdimensionalen Raum zu verorten. Dabei gibt es kein Qualitäts-Patentrezept und keine Standardlösung wie Qualität gesichert werden kann. Klar ist nur, dass bei dem, was als Qualität letztlich definiert wird ein Ko-Produzenten-Verhältnis zugrunde liegt. D.h. Qualität entsteht in Interaktion von Lerner und Lernarrangement und ist ein partizipativer Aushandlungsprozess. Einer Qualitätsentwicklung für pädagogische Handlungszusammenhänge liegt damit ein prinzipiell partizipatives Verständnis zugrunde, dass wir in der pädagogischen Qualitätsentwicklung als Erbringungsverhältnis bezeichnen. Die Befähigung der Lerner steht hier im Mittelpunkt – es geht jedoch nicht darum, ein Lernarrangement unreflektiert an Präferenzmustern von Lernern zu orientieren. Vielmehr müssen Bedürfnisse und Ausgangssituation dieser als Reflektionsfolie dienen, auf der die Entscheidung für geeignete didaktische Modelle und organisatorische Rahmenbedingungen getroffen werden.

Wir sagen dabei, dass ein Erbringungsverhältnis bildungsbezogener Dienstleistungen als ein symbolisch vermittelt stattfindender produktiv-aktiver Interaktions- und Produktionsprozess von Lernern mit anderen Akteuren bzw. Ressourcen in einem Lernarangement aufgefasst werden muss. Digitalisierung bezieht sich also auf diesen produktiv-aktiven Interaktions- und Produktionsprozess. Die Adressaten von Bildung sind dabei ausdrücklich nicht passive Empfänger, sondern aktive “Ko-Produzenten”. Für die Qualität von dgitalen Lernarangements hat diese Sichtweise Konsequenzen: Lernarrangements müssen so ausgestaltet werden, dass es den NutzerInnen ermöglicht wird, ihre Präferenzen und Bedürfnisse im Hinblick auf die Aufgaben der Lern-, Problembewältigung und darüber hinaus die jeweiligen Lebens- und Arbeitssituationen zur Geltung bringen zu können, damit sich ihnen damit die Möglichkeit eröffnet Kompetenzen und Bildung aktiv anzueignen.

Aus dieser Perspektive ist es für die Bestimmung von Qualität entscheidend, wie das Erbringungsverhältnis organisationell und professionell gestaltet wird. Wir haben dazu bereits vor 15 Jahren begnnen, die Präferenzen von lernenden in digitalen lernarrangements zu untersuchen und gewissermaßen zu kartografieren, um für eine sol verstandene Qualitätsentwicklung überhaupt einmal eine Grundlage zu haben.

Und ja – die in der Frage angelegte Vermutung kann ich im Fazit also nur teilen: Eine Adaption von bekannten Qualitäts(management)verfahren ist hierfür oft unzureichend, wie die Praxis zeigt. Sicherung von Qualität anhand von strukturellen oder formalen Mindeststandards – wie bspw. Die gesamte Metadatendiskussion in der OER Debatte zeigt – erscheint aus dieser Perspektive zwar als notwendiger Schritt ist aber im Hinblick auf eine Optimierung von Lern-, Bildungs- und Aneignungsprozessen auf Seiten der Lernenden nicht hinreichend.

  1. Freie Bildungsmaterialien (OER) haben Qualitätssicherung als zentrales Thema. Inwiefern passen traditionelle Qualitätssicherungsinstrumente mit freien Bildungsmaterialien (OER) zusammen?

Kurz gesagt: Eine (bildungsbezogene) Qualitätssicherung im Bildungsbereich ohne den Einsatzkontext, die Zielgruppe usw. zu kennen ist nicht möglich. Qualität kann sich dann nur auf anderen, nicht unmittelbar bildungsbezogene Aspekte beziehen, wie bspw. eine richtige Metadatenverschlagwortung oder mediale Funktionalität. Da es bei offenen Bildungsresourcen eben so schwer ist, einen Einsatzkontext vorweg zu nehmen ist eine Qualitätssicherung, die den  oben formulierte Anspruch hat (Relation zwischen den Anforderungen) durchzuführen. Daher ist tatsächlich auch zu beobachten, dass sich die Debatte um die Qualität vielfach tatsächlich auf das „R“ – also die Resourcen bezieht, nicht etwa die Bildung oder das Lernen – also auch den „open education“ Anteil des Begriffes.

Von diesem Ausgangspunkt her kommend, habe ich immer stark kritisiert, dass die Diskussion über Open Educational Resources, im Bereich der Qualität stark anhand der Ressourcen versucht wurde zu definieren. So gibt es bspw. Qualitätszyklen, die sehr stark darauf abheben, wer der Autor ist, wer ein Review macht, wie die mediale und Metadatenverschlagwortung ist etc., aber eben keine bildungsbezogenen Parameter, wie Niveau, Schwierigkeitsgrad oder didaktisches Design oder Zielgruppeneigenschaften in den Mittelpunkt stellt. Und hier gilt wieder die alte Erkenntnis: Man kann mit einer (OER) Ressource bei der richtigen Zielgruppe ganz wunderbar wirksam sein, schöne Lernergebnisse bewirken, Aha-Effekte und Lernprozesse. Bei einer anderen Zielgruppe, die möglicherweise gar nicht darauf anspricht, deren Präferenzen es gar nicht trifft, mit genau derselben (OER) Ressource aber gar keinen Effekt haben. Das heißt, die Qualität liegt nicht in der Ressource, sie liegt eben in dem aktiv-produktiven Aushandlungsprozess, in der Relation zwischen dem Anspruch und dem Kontext des Bildungsprozesses auf der einen Seite und dem Ziel, was in dieser Ressource möglicherweise verkörpert ist. Daher vertreten wir in Bezug auf die „OER Qualitätsdebatte“ in unseren Arbeiten auch die Überzeugung, dass wir nicht nur die Resourcen in den Blick nehmen müssen, sondern vor allem das Thema „Open Education“ diskutieren müssen. Es geht darum, die derzeitigen Bildungspraxen in offene Bildungspraxen zu transformieren. Es geht also nicht mehr um „Open Educational Resources“ sondern um „Open Educational Practices“ – um die Bildungspraxis in der offene Ressourcen eine Rolle spielen, in der sie genutzt werden, geteilt werden, geshared, remixt werden.

Das Konzept der Open educational practices – so wie wir es seit 2011 in der deutschen und europäischen Debatte eingeführt haben – enthält alle Anhaltspunkte, die wir für die Qualitätsentwicklung von OER-orientierter Lehre benötigen. Dabei geht es insgesamt um den Lernkontext, das Bildungsszenario.

  1. Welche Auswirkungen hat dies (Bezug zu Frage 2) bei der Erstellung und Verwendung von Bildungsmaterialien?

Um es kurz zu machen: Wen wir einen Paradigmenwechsel vollziehen und zukünftig nicht mehr „nur“ noch Open Educational Resources bei der Qualitätssicherung in den Blick nehmen, sondern das gesamte Bildungsgeschehen, sind die Auswirkungen bei der Verwendung von offenen Bildungsmaterialien natürlich enorm. Dann geht es darum, die Frage zu stellen, wie offen sind eigentlich unsere Lernumgebungen – im pädagogischem Sinne. In dem Konzept der „Open Educational Practices“ kombinieren wir nämlich die Nutzungsintensität von OER – also den Resourcen – mit der Frage, wie offen das pädagogische Szenario ist. Und Offenheit wird hierbei vor allem durch 2 Determinanten bestimmt: Können Lernende ihre eigenen Lernziele bestimmen oder einbringen oder werden die Lernziele fest vorgegeben? Und können Lernende den eigenen Lernweg bestimmen oder ist dieser fest vorgegeben. In offenen Lernarchitekturen würden wir eher eigenbestimmte Lernziele und Lernwege vorfinden und in geschlossenen eher vorgegebene Lernziele und –wege.

Um diese Bildungspraxis geht es eigentlich, es ist eine besondere Bildungspraxis und die Frage der Qualität muss darauf ausgerichtet sein: Wie können wir diese Bildungspraxis, die offene Ressourcen nutzt, qualitativ hochwertig gestalten.

Offene Bildungsresourcen kann man also entweder in einem Szenario nutzen, was pädagogische „geschlossen“ ist oder in einem Szenario, was pädagogisch offen ist. Und offene Bildungspraxis/ Open Educational Practices ist so definiert, dass offene Bildungsressourcen in offenen pädagogischen Bildungsszenarien genutzt/ geteilt oder verändert werden. Studierende können damit bspw. unterstützt werden, Wissensarbeiter/ Knowledgeworker zu werden, die im Raum des Wissens anhand ihrer eigenen Fragestellung frei agieren können und das, was sie erarbeiten als offene Ressourcen wieder zur Verfügung stellen. Und die Lehrenden sind so zusagen die Navigation-Guides, die Reflektionsprozesse anleiten.

Die Frage der Qualität kann man anhand dieses Modells gut stellen, weil es nicht mehr ressourcenbasiert ist, sondern weil es bildungsprozessbezogen ist. Und da kann man schon viel besser sagen: „Wie fit, liebe Studierende, seid ihr eigentlich, so eine Herausforderung anzunehmen?“ Das ist ganz schön schwierig, bspw. ein Bachelor-Studium so offen zu organisieren. Digitalisierung in dieser (offenen) Weise verstanden stellt die frage danach, wie Studium organisiert werden kann, um Studierende in passender Weise bei ihrer Lernautonomie zu unterstützen, und nicht danach, möglichst viel Wissen in möglichst kurzer zeit zu memorisieren. Dieses ‚passen‘, diese Relation ist immer so ein guter Punkt, bei dem man dann anfängt über die Qualität zu reden.

  1. Wie können “neue” Qualitätssicherungsinstrumente bei freien Bildungsmaterialien aussehen und Anwendung in der Bildungspraxis finden?

Mittlerweile gibt es eine ganze Reihe an ausgearbeiteten Ansätzen, um Qualität in offenen Bildungsszenarien zu entwickeln. Es sind dies Ansätze, die sehr stark auf Selbstevaluation oder Peer-Review, Peer-Learning, Peer-Assist durch andere Lernende abheben. Wir haben in einer gerade erschienen Publikation einmal alle derzeit existierenden Ansätze und Instrumente zusammengestellt: Open Learning Cultures. A Guide to Quality, Evaluation and Assessment for Future Learning. (Springer 2013)

Ehrlicherweise muss man zugestehen, dass wir in den meisten Bildungsinstitutionen weltweit und vor allem auch in Schulen und Hochschulen noch weit von offenen Bildungspraxen entfernt sind und auch peerorientierten Qualitätssicherungsverfahren nicht viel Glauben schenken. Aber die Natur der neuen Lernszenarien lässt uns keine Wahl – digitale Medien erlauben viel individuellere Lernmöglichkeiten, und Qualität kann dafür nur als interaktiver Prozess gestaltet werden, in dem Lernende selber reflektieren, andere Lernende zur Validierung heranziehen und Lehrende diesen Prozess begleiten, aber nicht als bewertende am Ende, sondern eher wie „Stewards“ eine Reise.

Ulf Ehlers , 18.8.2015

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